Letzte Reise

«Am Bett eines Menschen zu sitzen, kann unglaublich kraftvoll sein – auch wenn keine Kommunikation mehr möglich ist.»

Interview mit Sterbebegleiter und Tantra-Masseur Markus C. Müller

Markus C. Müller kaufte damals den Aston Martin nur zum Spass: Ein «unglaublich teures und schnelles Auto». Nach einer Woche war die Freude weg. Abgeholt wurde der «Regional Managing Director Europe» der Firma BlackBerry jeweils ohnehin in einer Limousine mit eigenem Chauffeur.

Eines Tages stand Müller in einer Buchhandlung, als ein kleiner Moment sein Leben veränderte: «Ganz plötzlich stach mir der Titel eines kleinen Buches der Autorin Bronnie Ware ins Auge: „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“. Dieser Satz traf mich bis ins Mark. Mir wurde schlagartig klar, dass ich mein Leben vergeudete, mir selber fremd geworden war und sinnlose Dinge tat.»

Müller kündigte und flog am gleichen Abend nach Thailand. Langsam fand er wieder zu sich selber. Er machte eine Sterbebegleiter-Ausbildung und arbeitet heute als Tantra-Masseur in Bern (www.tantralove.ch).

Video-Transkript

«Ich weiss gar nicht, ob das ein Seitenwechsel war bei mir. Ich hatte immer das Gefühl in meinen Leben, dass ich zwei Personen, zwei Leben lebe; zwei Personen bin. Das waren einmal die geschäftliche Person und einmal die private Person. Und die private Person zum Beispiel hat sich interessiert für Dinge – für das Sterben zum Beispiel – für spirituelle Dinge oder für Dinge, die mich im Leben beschäftigt haben. Und ich habe immer wieder versucht, diese Dinge auch einzubringen in das Leben der anderen Person, in das geschäftliche Leben – und diese Überschneidung ist mir nicht gelungen. Durch diese Wiederzusammenführung kann ich jetzt ein viel integrierteres oder ein viel entspannteres Leben leben als vorher.

Macht und Geld sind zwei spannende Begriffe. Zum einen: Macht ist manchmal schon ein wenig wie Honig. Man merkt schon: je mehr Macht man bekommt... oder Macht ändert Menschen. Das habe ich bei mir auch feststellen können. Ich kann mich gut an eine Situation erinnern, als mich mal ein Chauffeur abgeholt hat und dann hat er mir die Türe nicht aufgehalten und ich kann mich erinnern, dass ich damals gedacht habe: „Was bildet der sich ein, wieso hält der mir die Türe nicht auf?“

Und als ich das gedacht habe, habe ich aber im gleichen Moment inne gehalten und mir gedacht: „Moment mal, wer bin ich eigentlich geworden?“ Und da habe ich gemerkt, dass dieses Thema eben – also Macht zu haben, Menschen unter sich zu haben – dass das schon einen Menschen verändern kann. Das wollte ich aber nicht. Ich kann mich gut an diese Situation erinnern und habe mir damals gesagt: „So möchte ich nicht werden“.

Das ist das eine zum Thema Macht. Und zum anderen, zum Thema Geld: Ich glaube, niemand, der kein Geld hat, versteht diesen Satz, das Geld nicht glücklich macht. Wenn Sie jemandem sagen, der auf der Strasse lebt: „Wenn ich dir jetzt eine Million gebe, wirst Du dadurch nicht Glücklicher“, das ist natürlich Quatsch. Also der Mensch wird definitiv, wenn er ein bisschen Geld hätte, glücklicher werden. Nur ab einem bestimmten Punkt, wenn Sie sozusagen eine bestimmte Summe erreicht haben, dann steigt dieses Glück nicht mehr, im Gegenteil: Meine Erfahrung ist sogar, dass es dann eigentlich wieder abnimmt. Weil Sie dann andere Probleme bekommen. Dann ist die Frage, was machen Sie mit dem Geld? Dann müssen Sie sich darum kümmern, dass Sie das Geld nicht verlieren und dann haben Sie Angst, dass das Geld bei bestimmten Investments eben sich nicht vermehrt, sondern sogar flöten geht. Und das sind Dinge, die dann ihr Leben bestimmen.

Also wieso nutze ich das Geld nicht für mein jetziges Leben und mache Dinge, die mir Spass machen, die mir Freude bereiten und die vor allem Sinn machen für mich, wo ich spüre: „Da zieht es mich hin“. Und Sterbebegleitung war genau so eine Sache. Da habe ich einen Artikel gelesen zum Thema Sterbebegleitung und habe Rotz und Wasser geheult. Und ich wusste nicht warum. Ich habe mich dann damit beschäftigt und habe gemerkt, dass mich dieses Thema – sterbende Menschen zu begleiten – einfach unglaublich anzieht.

Also die Sterbebegleiter-Ausbildung hat 14 Monate gedauert. Für mich war das ein unglaublich spannender Prozess, weil ich natürlich über meinen Job ein sehr lösungsorientierter Mensch bin. Also ich kenne das so, es gibt ein Problem, dann gibt’s ein paar Lösungen dazu, man entscheidet sich für eine Lösung, dann zieht man die durch und bei der Sterbebegleitung geht’s eben genau nicht um Lösungen. Es geht nicht darum, eine Lösung zu finden, wo keine Lösung ist, sondern es geht eigentlich darum, etwas zu akzeptieren, und da zu sein und etwas auszuhalten. Also beispielsweise auch Trauer auszuhalten. Oder Verzweiflung auszuhalten, oder Schmerz auszuhalten und nicht den Menschen eine Lösung zu bieten.

Und ich habe intensiv gespürt, wie bei den Rollenspielen, die wir immer wieder gemacht haben in der Ausbildung, ich immer wieder in dieses Lösungs-Thema gerutscht bin. Und es war für mich interessant, mich da wieder zurückzunehmen und zu lernen, eben von dieser Lösung loszulassen. Und festzustellen: In dem Fall sind Lösungen nicht angesagt, sondern es geht darum, da zu sein. Und da-sein hat unglaublich Kraft. Also am Bett eines Menschen zu sitzen, der vielleicht sogar schwer dement ist, wo keine Kommunikation mehr stattfinden kann, wo Sie nur noch daneben sitzen, vielleicht ab und zu den Menschen in die Augen schauen, seine Hand halten, wo sonst nix mehr passiert – kann unglaublich kraftvoll sein.

Und es war für mich eine ganz neue Erfahrung. Also während dem Praktikum sass ich am Bett einer 94jährigen, die eben schwer dement war. Und mit der konnte ich nicht mehr kommunizieren. Und trotzdem war eine unglaublich starke Energie da, die uns verbunden hat, eine Kraft. Und die Frau ist auch kurz danach gestorben und ich bin mir sicher, dass auch sie ganz viel für sich – mindestens genauso viel wie ich – rausgezogen hat aus dieser Begegnung, obwohl von Aussen betrachtet nichts passiert ist. Wenn jemand zugeschaut hätte, hätte der zwei Menschen gesehen, die eine lag im Bett, der andere sass neben dem Bett und das war’s. Also passiert ist nix – und doch ist ganz viel passiert.

Ich bin fest davon überzeugt, dass das, was uns ausmacht, unsere Seele, unser Bewusstsein oder wie man das auch immer nennen mag, dass das eine Kraft ist, die nicht vergeht. Die Physik sagt, dass Energie nicht verschwinden kann, sondern sie kann sich nur transformieren. Und sofern glaube ich, dass sich diese Energie dann transformiert. Ich glaube, dass wir ganz viele, hunderte, tausende Leben haben, die wir leben – in verschiedenen Formen – und ich bin mir sicher, dass es danach weitergeht, dass es danach in einer anderen Form, in einem anderen Erlebnis-Umfeld, mit anderen Erfahrungen weitergeht. Und dass das ein Prozess ist, der nie aufhört; der unendlich ist.»