Letzte Reise

Im Huhn begraben


Sargkunst in Ghana

Von Regula Tschumi (Fotos) und Fabian Biasio (Videos)

In Ghana machen Särge Leute: Mit ihren phantastischen Formen sind sie ein letzter Gruss aus dem Grab. Ein Car für den Chauffeur, eine Kuh für den Bauern oder eine Kamera für den Fotografen zollen den Verstorbenen Respekt. Europäer kennen die Sargkunst aus Ghana als bizarre Bestattungskultur mit einem Hang zur Extravaganz. Doch die Särge bergen ein Geheimnis.

Regula Tschumi – nicht so, wie alle glaubten

Während zehn Jahren begab sich Regula Tschumi mehrfach nach Ghana, immer auf den Spuren der figürlichen Särge der Ga. Die Ethnologin erforschte die Kultur der Ga, ihre Religion, ihre künstlerischen Ausdrucksformen, ihre Geschichte und ihre Beerdigungsrituale. Infolge dieser jahrelangen intensiven Forschungsarbeit gelang es ihr schliesslich, den Zusammenhang zwischen Sänften und Särgen aufzudecken. Damit offenbarte sie eine kleine Sensation: Die ethnografische Forschung und der internationale Kunstmarkt sind einem folgenreichen Irrtum erlegen. Die figürlichen Särge der Ga sind keineswegs, wie bisher angenommen, eine neue Kunstform, die von einem autonomen Künstlerindividuum erfunden wurde. Vielmehr sind sie lediglich Stellvertreter der geheimnisumwehten figürlichen Sänften.

«Die Initiationsriten und Beerdigungsriten müssen identisch sein. Dann versteht man, dass ein König, der in einer figürlichen Sänfte getragen wurde, in einem figürlichen Sarg begraben werden muss.»

Regula Tschumi

Feldforschung in Ghana

Die figürlichen Sänften und Särge der Ga im Süden Ghanas. Geschichte, Transformation und Sinn einer künstlerischen Ausdrucksform von den Anfängen bis in die Gegenwart.

Von Dr. phil. Regula Tschumi, Ethnologin und Kunsthistorikerin

Die figürlichen Särge der Ga fanden seit der Ausstellung «Les Magiciens de la terre» in Paris 1989 weltweit als Kunstwerke grosse Beachtung. Ihre Erfindung wurde seither allgemein dem Sargschreiner Kane Kwei (1925-1992) aus Teshie zugeschrieben. Die Dissertation von Regula Tschumi hinterfragt nun die in der Kunstwelt etablierten Entstehungsmythen und Deutungen der figürlichen Särge und geht erstmals auch den im Westen kaum bekannten figürlichen Sänften nach, die bis anhin als die nicht mehr existierende Vorläufer der figürlichen Särge galten.

Die Dissertation basiert auf fünf Jahren Feldforschung, die von 2004 bis 2012 in mehreren Etappen in der Region Greater Accra durchgeführt wurden. Um mehr zu den Sänften und Särgen zu erfahren, hat Regula Tschumi die Kultur der Ga, ihre Religion, ihre künstlerischen Ausdrucksformen, ihre Geschichte und ihre Beerdigungen erforscht. Sänften und Särge wurden also im Kontext der Lebenswelt betrachtet, aus der sie sich entwickelt haben und in der sie benutzt wurden/werden. Erst mit diesem breiten interdisziplinären Ansatz konnten die Zusammenhänge zwischen den figürlichen Sänften und Särgen aufgedeckt und der Sinn dieser künstlerischen Ausdrucksformen verstanden werden.


Die figürlichen Särge wurden bei den Ga schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang der grossen Chief-Beerdigungen benutzt, sie sind nicht die Erfindung eines autonomen Künstlers in den 1960er Jahren. Da Initiationen und Beerdigungen, wie Regula Tschumi zeigt, bei den Ga komplementär sind, musste jeder Chief, der bei der Initiation in einer figürlichen Sänfte sass, auch in einer solchen begraben werden. Aber anders als bis anhin angenommen durfte man dafür nicht seine einstige Sänfte benutzen, sondern nur deren Kopie. Die Sänfte blieb dann nach dem Tod ihres Benutzers im Besitz der Familie und transformierte sich zu einem Heiligtum. Die ersten figürlichen Särge hatten sich also nicht aus den Sänften entwickelt oder diese ersetzt, wie bis anhin angenommen wurde, sondern sie waren deren Kopien. Erst in den 1960 begannen sich die figürlichen Särge auch unter Christen zu verbreiten. Damals gingen Sargschreiner wie Kane Kwei (1925-1992) oder Ataa Oko (1919-2012) dazu über, auch für «gewöhnliche» Ga figürliche Särge herzustellen, die in ihrer Figürlichkeit nun neu mit dem Beruf des Verstorbenen und nicht wie vorher mit dem Familienemblem oder Totem verbunden waren.

Ein Sarg für die Sargforscherin

Sargsammlerin aus Leidenschaft: Regula Tschumi erforscht nicht nur Särge, sie kauft sie auch. Bei Kudjoe Affutu hat sie ein Handy, einen Löwen sowie einen Hahn bestellt. Bei Affutus Lehrmeister Ataa Oko gab die Ethnologin ebenfalls einen Hahn in Auftrag. In einem Container verschiffte sie die Särge nach Europa – kein einfaches Unterfangen. Wie möchte sie selbst beerdigt werden?

Kudjoe Affutu

Seine Särge sind weltweit Ausstellungsstücke

Der 32-jährige Kudjoe Affutu lernte sein Kunsthandwerk bei Paa Joe (*1947) und Ataa Oko (*1919-2012). Seit bald zehn Jahren führt er in der Central Region/Ghana ein eigenes Atelier für figürliche Särge. Kudjoe Affutu stammt aus einfachsten Verhältnissen und kam als 15-Jähriger zu Paa Joe nach Nungua in die Lehre. 2007 kam es zum Bruch, weil Paa Joe den erkrankten Kudjoe Affutu entliess. Ein Jahr später, nach seiner Genesung, machte sich Affutu selbstständig. Nach einer langen Durststrecke gelang es ihm schliesslich, sich zum bekanntesten Sargschreiner der Central Region zu entwickeln. Mittlerweile werden seine Särge in ganz Ghana, aber auch in den Nachbarländern Togo, Benin und Côte d’Ivoire benutzt. Heute ist Kudjoe Affutu international als Sargkünstler bekannt.

Ausstellungen

In Zusammenarbeit mit Regula Tschumi nahm Kudjoe Affutu an zahlreichen Gruppenausstellungen teil: 2010 in «La Carte d’après Nature» in Monaco und 2011 in der «Matthew Marks Gallery» in New York; 2010 an der von Saâdane Afif inszenierten Ausstellung «Anthologie de l’humour noir» im Centre Pompidou in Paris; 2012 in der gleichnamigen Schau in Frankfurt im Museum für Moderne Kunst; 2011 in «Fetisch Auto» im Tinguely Museum Basel; 2012 in «Hors-champs» im Musée d’ethnographie Neuchâtel. Seit August 2016 sind zwei seiner Särge im Naturhistorischen Museum Bern und ein Humvee-Sarg – ein amerikanisches Armeefahrzeug – in der Sammlung des Museums der Kulturen Basel permanent ausgestellt.

«Einmal bestellten sie bei mir das "Centre Pompidou". Ich musste alles genau kopieren. Dabei habe ich das Gebäude noch nie mit eigenen Augen gesehen.»

Kudjoe Affutu

Angst vor dem Tod?

In Ghana gehört der Tod zum Alltag und ist fest im Leben verankert. Beerdigungen finden jede Woche von Donnerstag bis Sonntag in der Öffentlichkeit statt. Auf die Frage, ob sich Kudjoe Affutu vor dem Tod fürchte, reagiert er belustigt: «Würde ich morgen nicht mehr aufwachen – ich hätte kein Problem damit.»

Bücher von Regula Tschumi

Akribische Wissenschaftlerin, passionierte Fotografin

Regula Tschumi war von September 2007 bis August 2013 Doktorandin am Ethnologischen Seminar der Universität Basel. Ihre Dissertation mit dem Titel «Die figürlichen Sänften und Särge der Ga im Süden Ghanas – Geschichte, Transformation und Sinn einer künstlerischen Ausdrucksform von den Anfängen bis in die Gegenwart» wurde im November 2013 publiziert. Es folgten zwei weitere, attraktive Bildbände. Regula Tschumis Arbeit basiert auf mehrjähriger Feldforschung, die sie seit 2002 während mehrerer Aufenthalte in der Region Greater Accra durchgeführt hat. Um mehr über die Sänften und Särge zu erfahren, hat sie die Kultur der Ga, ihre Religion, ihre künstlerischen Ausdrucksformen, ihre Geschichte und ihre Beerdigungen erforscht. Sänften und Särge werden im Kontext der Lebenswelt betrachtet, aus der sie sich entwickelt haben und in der sie benutzt wurden und werden. Erst mit diesem breiten interdisziplinären Ansatz vermag die Autorin die Zusammenhänge zwischen den figürlichen Sänften und Särgen aufzudecken und den Sinn dieser künstlerischen Ausdrucksform zu erklären.


Verborgene Kunst

Edition Till Schaap 2014. 230 S.; ca. 280 Abbildungen farbig und s/w; Halbleinenband 22 x 28 cm.
ISBN 978-3-03828-098-9 / Deutsch


Geschichte, Transformation und Sinn der figürlichen Sänften und Särge in Ghana
: Regula Tschumis neuer Text-Bild-Band basiert auf ihrer Dissertation und auf mehreren Jahren Feldforschung in der Region von Greater Accra im Süden Ghanas. Erstmals stehen in dieser Publikation die figürlichen Sänften der Ga im Fokus.


The buried treasures of the Ga

Edition Till Schaap 2014. 240 S.; ca. 400 farbige und 15 s/w Abbildungen; Broschur 24 x 28 cm.
ISBN 978-3-03828-016-3 / Englisch

Seit etwa fünfzig Jahren stellen die Ga Särge in Form von Früchten, Tieren und Statussymbolen her und haben damit eine Tradition begründet, die hier erstmals umfassend in einem fundierten Text und in zahlreichen aussagekräftigen Abbildungen präsentiert wird. Regula Tschumi geht der Geschichte dieser figürlichen Darstellungen in der Kunst und Religion Ghanas nach. Sie untersucht den soziokulturellen Kontext, behandelt die Arbeitsbedingungen und Herstellungsmethoden der Sargkünstler und stellt insbesondere die Werke und Arbeitsmethoden von Paa Joe, Ataa Oko und Kudjoe Affutu vor. Weitaus mehr als Kunstobjekte für Galerien und Museen, sind die vergrabenen Schätze der Ga ein in alten Glaubensvorstellungen wurzelnder Bestandteil der ghanaischen Beerdigungsfeierlichkeiten und Bestattungsrituale. Dieses im Jahr 2006 erstmals auf Deutsch erschienene Buch wurde 2008 auf Englisch übersetzt. 2014 erschien eine gründlich überarbeitete Neuauflage bei Edition Till Schaap in Bern.


Concealed Art

The figurative palanquins and coffins of Ghana
Edition Till Schaap 2014. 240 S.; 380 farbige und 15 s/w Abbildungen; Halbleinenband 24 x 28 cm.
ISBN 9783716514139 / Englisch

Kultur, Religion und künstlerische Ausdrucksformen der Ga in Ghana. Erstmals werden die figürlichen Sänften im Kontext ihrer Lebenswelt untersucht, wird ihr Sinn aufgedeckt sowie mit bisher unveröffentlichtem Bildmaterial dokumentiert.

Impressum

Fotos figürliche Särge und Beerdigungen: Regula Tschumi / www.regulatschumi.ch
Video Königsbeisetzung in Löwensarg: Regula Tschumi
Texte: Regula Tschumi und Fabian Biasio
Videos, Schnitt und Scrollreportage: Fabian Biasio / www.biasio.com
Bilder Sargatelier und Porträt Kudjoe Affutu: Fabian Biasio

© Regula Tschumi und Fabian Biasio / Letzte Reise GmbH, www.letztereise.ch